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Das Puppentheater

von Gilbert Keith Chesterton

Es gibt nur einen einzigen Grund dafür, dass Erwachsene nicht mit Spielzeug spielen, aber das ist ein triftiger Grund. Sie spielen nämlich nicht, weil die Beschäftigung mit Spielzeug weitaus mehr Zeit und Mühe kostet als jede andere Tätigkeit. Das Spielen der Kinder ist die ernsthafteste Angelegenheit von der Welt; wenn uns erst einmal die kleinen Pflichten und die kleinen Sorgen des Alltags eingeholt haben, müssen wir uns zwangsläufig von einem so gewaltigen und ehrgeizigen Lebensplan, wie das Spiel ihn be­reithält, verabschieden. Wir haben zwar Kraft genug für Politik und Handel und Kunst und Philosophie; aber wir haben keine Kraft mehr für das Spiel. Jeder, der als Kind mit irgendetwas gespielt hat, wird bestätigen können, dass dies zutrifft, ob er nun mit Bauklötzen gespielt hat oder mit Puppen oder mit Zinnsol­daten. Auf meine journalistische Arbeit, mit der ich doch mein Brot verdiene, verwende ich bei weitem nicht so viel Mühe und Beharrlichkeit wie einst auf die Tätigkeiten, für die ich nichts bekam.
 
Nehmen wir nur einmal die Bauklötze und unterstellen wir, der geneigte Leser brächte morgen ein zwölfbändiges Werk über Theorie und Praxis der europäischen Architektur heraus. Gewiss, das mag viel Mühe gekostet haben, aber im Kern eines solchen Werkes steckt doch immer etwas Leichtfertiges und Spielerisches. Auf jeden Fall ist die Arbeit an einem solchen Buch gar nicht zu vergleichen mit der Beschäftigung eines Kindes, das Bauklötze aufeinandersetzt. Und das hat einen einfachen Grund: Ist das Buch schlecht, gibt es praktisch niemanden, der mit absoluter Sicherheit und ein für allemal beweisen könnte, dass dieses Buch nichts taugt. Wenn das Kind seine Bauklötze aber nicht geschickt genug aufeinanderschichtet, stürzt das Bauwerk einfach in sich zusammen. Und nach allem, was ich von Kindern weiß, wird der Junge sich sofort mit feierlichem Ernst der Aufgabe widmen, die Mauer neu zu errichten. Nach allem, was ich von Autoren weiß, würde niemand von ihnen auch nur einen Gedanken darauf ver­schwenden, sein Buch noch einmal neu zu schreiben.

Oder nehmen wir das Beispiel der Puppen. Sich mit Fragen der Erziehung auseinanderzusetzen ist sehr viel unproblematischer, als eine Puppe zu versorgen. Einen Zeitungsbeitrag über Erzie­hung verfasst man nebenher, so wie man über Karamellbonbons oder Straßenbahnwagen schreiben würde. Eine Puppe zu umsor­gen ist aber fast so schwierig wie die Versorgung eines Kindes. Die kleinen Mädchen, die ich in den kleinen Gassen von Batter­sea sehe, behandeln ihre Puppen auf eine Weise, die kaum noch Spiel zu nennen ist, sondern an Liebe und Vergötterung grenzt. Manchmal treten Liebe und Sorge für das symbolische Abbild sogar an die Stelle der ursprünglichen Wirklichkeit, die doch ver­mutlich damit gemeint war. Einmal habe ich in Battersea näm­lich ein Mädchen getroffen, das seine Schwester, einen kräftigen Säugling, in einem Puppenwagen spazierenfuhr. Auf verwunderte Fragen antwortete die Kleine: „Ich habe doch keine Puppe, und das Baby will jetzt meine Puppe sein.“ Natur hat hier fürwahr die Kunst kopiert: Zunächst war die Puppe ein Kindersatz; dann übernahm das Kind die Rolle einer Puppe. Von hier führen Fäden in verschiedenste Richtungen; uns interessiert jetzt aber nur, dass ein solcher Grad der Fürsorge fast alle Aufmerksamkeit, ja fast das gesamte Leben in Anspruch nimmt, ganz so, als sei das Spielzeug die Wirklichkeit, für die es steht. Der Mann, der über Mutterschaft schreibt, ist nur ein Theoretiker; das Kind, das mit der Puppe hantiert, ist eine Mutter.
Nehmen wir auch noch den Fall der Soldaten. Ein Mann, der einen Beitrag über militärische Strategien formuliert, ist einfach nur ein Mann, der einen Artikel schreibt, ein bejammernswerter Anblick. Ein Knabe jedoch, der einen Feldzug mit Zinnsoldaten arrangiert, ist ganz wie ein General, der Soldaten aus Fleisch und Blut in die Schlacht führt. Er braucht wahrhaftig all seine kind­lichen Kräfte, um die Sache wohl zu durchdenken; der Kriegs­korrespondent hingegen braucht überhaupt nichts zu denken. Ich entsinne mich noch, dass ein Kriegskorrespondent nach der Gefangennahme Methuens schrieb: „Diese neuerlichen Aktionen auf Seiten Delayreys sind vermutlich auf seine Knappheit an Proviant zurückzuführen.“ Der gleiche Journalist hatte einige Absätze zuvor ausgeführt, ein Trupp unter der Führung von Methuen habe Delarey schwer zugesetzt. Methuen hatte also Jagd auf Dela­rey gemacht, und Delarey agierte aus Mangel an Proviant. Mit ausreichenden Lebensmittelreserven wäre Delarey also vermut­lich vollkommen ruhig geblieben, wenn man ihn verfolgt hätte? Angenommen, ich schwinge eine Axt und laufe hinter Jones her – ­wenn er schleunigst die Flucht ergreift, liegt das einzig und allein daran, dass er nicht viel Geld auf dem Konto hat? Kein Junge, der mit seinen Zinnsoldaten spielt, käme auf derart törichte Einfälle. Denn jeder, der mit etwas spielt, betreibt das mit großem Ernst. Beim Schreiben eines Artikels dagegen darf man, wie ich leider nur allzu gut bestätigen kann, praktisch alles einfließen lassen, was einem so durch den Kopf geht.
 
Wenn also Erwachsene sich nicht an Kinderspielen beteiligen, liegt das im allgemeinen nicht daran, dass sie keine Lust dazu hätten. Ihnen fehlt schlicht und einfach die Zeit. Ein so großes und ernstes Werk wie ein Spiel erforderte bei weitem mehr Zeit und Mühe und tiefschürfendere Überlegungen, als Erwachsene jemals aufbieten könnten. Ich selbst habe vor einiger Zeit ein­mal versucht, ein Stück in einem Puppentheater aufzuführen; in einem dieser kleinen farbigen Papiertheater, die man für einige Pence bekommt, nur mit dem Unterschied, dass ich die Kulissen und die Figuren selbst gezeichnet und koloriert habe. So blieb mir die demütigende Pflicht erspart, für etwas nur einen Penny oder zwei Pence zu zahlen; stattdessen fielen dann pro Bogen guter Pappe ein Schilling an und ein weiterer Schilling für eine Dose minderwertiger Wasserfarben. Vermutlich kennt jeder diese Art von Miniaturbühnen; sie gründen auf den Bühnen von Skelt, die Stevenson so gepriesen hat.
 
Doch obwohl ich mir mit meinem Puppentheater sehr viel mehr Mühe gegeben habe als jemals mit einer Erzählung oder einem Zeitungsbeitrag, wird es wohl unvollendet bleiben müs­sen; diese Aufgabe ist mir zu anspruchsvoll. Ich werde sie wohl drangeben und mich leichteren Tätigkeiten zuwenden, den Bio­graphien großer Männer zum Beispiel. Denn dem Drama vom heiligen Georg und dem Drachen, für das ich bei Nacht reichlich Lampenöl verbraucht habe (man muss die Kulissen bei Lampen­licht kolorieren, denn die Aufführungen finden ja auch im Schein der Lampen statt!), fehlen noch immer zwei Flügel am Palast des Sultans, und auch die Vorrichtung zum Aufziehen des Vorhangs funktioniert noch nicht.
Bei all dem überkommt mich eine Ahnung von der wahren Bedeutung der Unsterblichkeit. Auf Erden sind uns reine Freu­den nicht vergönnt, teilweise wohl deshalb, weil reine Freuden uns und unseren Mitmenschen gefährlich werden könnten. Ein Grund mag aber auch darin liegen, dass reine Freuden einfach viel zu viel Mühe bereiten. Sollte ich jemals in eine andere und bessere Welt gelangen, hoffe ich, dass ich wenigstens dort genug Zeit habe, ausgiebig mit Puppentheatern zu spielen; und sollte es mir dann nicht an göttlichem Beistand mangeln, möchte ich in diesem Theater zumindest einmal ein Drama ohne Hindernisse und Unterbrechungen in Szene setzen.
 
Unterdessen ist die Philosophie des Puppentheaters auch hier auf Erden eine gründlichere Betrachtung wert. Alle wichtigen Lehrsätze, die der moderne Mensch beherzigen sollte, lassen sich nämlich aus dieser Spielzeugbühne ableiten. In künstlerischer Hinsicht erinnert uns das Puppentheater an das Grundprinzip jeglicher Kunst, ein Prinzip, das gerade heutzutage beinahe in Vergessenheit gerät. Ich meine die Tatsache, dass der Kunst Grenzen gesetzt sind – Kunst ist Begrenzung. Der Kunst geht es gar nicht um die Ausdehnung der Welt, Kunst beschneidet die Dinge, so wie ich mit meiner Schere meine hässlichen Figuren, ­den heiligen Georg und den Drachen, zurechtgeschnitten habe. Plato liebte die Klarheit der Ideen; ihm würde mein Drache aus Karton gefallen, denn dem Tier gehen zwar alle künstlerischen Schnörkel ab, doch es wirkt zumindest drachenartig. Moderne Philosophen hingegen, die der Idee der Unendlichkeit verfallen sind, könnten sich vielleicht eher mit einem unbedruckten Bogen aus Karton anfreunden. Der besondere künstlerische Reiz einer Theateraufführung liegt jedoch darin, dass der Zuschauer das Ge­schehen durch ein Fenster betrachtet. Dies gilt auch für Bühnen, die nicht an meine eigene Schöpfung heranreichen; selbst beim Royal Court Theatre blickt man wie durch ein Fenster, aller­dings durch ein ungewöhnlich großes. Der Vorteil eines kleinen Theaters besteht nun aber darin, dass man durch ein kleines Fen­ster schaut. Hat nicht jeder von uns schon einmal bemerkt, wie hübsch und ungewohnt eine Landschaft wirkt, die man durch eine Maueröffnung betrachtet? Diese strenge, quadratische Form, dieses Ausblenden aller störenden Elemente trägt nicht nur zur Herstellung von Schönheit bei: Dies ist das Wesen von Schönheit. Der schönste Teil eines jeden Bildes ist der Rahmen.
 
Dies vor allem gilt für das Puppentheater: Weil es den Maß­stab der Begebenheiten verkleinert, kann es sehr viel größere Er­eignisse fassen. Weil sie so klein ist, lässt sich auf dieser Bühne mühelos das Erdbeben von Jamaika darstellen. Weil sie so klein ist, kann sogar das Jüngste Gericht darauf stattfinden. Gerade weil das Puppentheater begrenzt ist, finden darauf der Untergang ganzer Städte oder ein Meteor, der vom Himmel fällt, ihren Platz. Die großen Theater müssen sparsam wirtschaften, weil sie so groß sind. Haben wir diese Tatsache erst einmal begriffen, verstehen wir auch, warum die Welt ihre wichtigsten Anregungen immer erst von den kleinen Nationen empfangen hat. Das gewaltige Ge­bäude der griechischen Philosophie passte leichter in die kleine Stadt Athen als in das unendliche Reich der Perser. In den engen Gassen von Florenz fand Dante seinen Raum für Purgatorium, Himmel und Hölle. Ein Gebilde wie das Britische Empire hätte seine Phantasie erstickt. Große Reiche sind notwendigerweise prosaisch, denn kein Mensch vermag ein großes Gedicht einem derart großen Maßstab anzugleichen. Große Ideen brauchen einen kleinen Rahmen. Mein Puppentheater ist nicht weniger philosophisch als das Drama von Athen.
 
Aus: Gilbert Keith Chesterton: Vom Wind und den Bäumen oder Gewichtige Kleinigkeiten, 2008.

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